„Der flüchtige Tanz darf nicht vergessen werden“ – KLUB DIALOG

„Der flüchtige Tanz darf nicht vergessen werden“

Das weltgrößte Tanzfilmarchiv erzählt in Bremen die Geschichte des Tanztheaters. Heide-Marie Härtel hat es gegründet.

Aus körnigem Grau schält sich ein Ballettpaar hervor. Weiß und leichtfüßig schwebt es über den dunklen Bildschirm. „Schön, wenn diese Bilder wieder laufen, die vorher nur Schnee waren“, sagt Heide-Marie Härtel und blickt zufrieden auf den Monitor im Nebenraum. Auf ihm erwachen – restauriert und digital gesichert – nach fast fünfzig Jahren die Tänzer aus einem Stück des Choreografen John Neumeier zu neuem Leben.

Blick in den Schnittraum: Das Herz des Tanzfilminstituts. Medientechniker Claus Bouchard im Hintergrund. Foto: Annekathrin Gut

Der Schnittraum, er ist das Herzstück des Deutschen Tanzfilminstituts in Bremen. Vollgestellt mit Monitoren, Abspielgeräten und einem ausladenden Schnittpult, das mal Sat.1 gehörte. Rund 40.000 Medieneinheiten besitzt das Institut. Sie dokumentieren den Bühnentanz seit den 1960er Jahren in Deutschland und weltweit, auf 8-Millimeter, VHS, DVD und digitalen Datenträgern.

Etwa die Hälfte davon haben die Leiterin Heide-Marie Härtel und ihr Team selbst in TV-Qualität produziert. Hinzu kommen Aufzeichnungen aus dem Bestand von Choreografen und Tänzern sowie Nachlässe. Außerdem unzählige Archivalien: Plakate, Fotografien, Programmhefte, Musikbücher.

Das Tanzfilminstitut im wuchtigen Gebäude des alten Polizeihauses ist weltweit das größte Archiv für Tanzfilm. „Der flüchtige Tanz darf nicht vergessen werden, wenn der Vorhang zugeht“, beschreibt Heide-Marie Härtel ihre Aufgabe. Schließlich könne er nicht so einfach aufgeschrieben werden, auch nicht mit den hochentwickelten Tanzschriften, die nur sehr wenige Tänzer und Choreografen lesen oder schreiben können: „Kennen Sie die? Die sind so abstrakt und unsinnlich!“

Getanzte Politik

Eine politisch aufgewühlte Zeit war es, als die junge Tänzerin Heide-Marie Härtel zu filmen begann. Sie hatte eine klassische Ausbildung an der Tanzakademie in Köln absolviert, war dort engagierte Schulsprecherin und später gewerkschaftlich aktiv. Ab 1971 tanzte sie sieben Jahre lang im Ensemble von Hans Kresnik am Bremer Theater. Dort war sie mittendrin in der Phase des Aufbruchs, als Intendant Kurt Hübner den kritischen Zeitgeist auf die Bühne holte.

Hans Kresnik entwickelte Stücke wie die „Kriegsanleitung für Jedermann“ (1971) gegen den zu der Zeit immer noch tobenden Krieg in Vietnam. Für viele Zuschauer war der getanzte Guerilla-Krieg verstörend. „Wir standen mit Holzgewehren auf der Bühne. Im Großen Haus!“, erinnert sich Heide-Marie Härtel. Sie selbst war begeistert: „Das Tanztheater, so wie es heute weltweit bekannt ist, wurde in Bremen erfunden.“

Für die Solistin und Ensembletänzerin war es ein „Muss“, das neue Bühnengeschehen zu dokumentieren. Videotechnik gerade erst verfügbar und erschwinglich geworden. Ab 1979 machte sie Tanzfilme und Theateraufzeichnungen nicht nur in Bremen, sondern auch für andere Theater und Universitäten.

Auf einer schwarz-weiß Fotografie ist Heide-Marie Härtel als junge Frau mit Filmkamera auf der Schulter zu sehen. „Meinen Ölofen, so habe ich die genannt. Ich junges Ding, immer mit dieser riesigen Kamera unterwegs!“ Ihre Dokumentationen sprachen sich auch an den Bühnen herum, deren unbequemes Tanztheater wenig Öffentlichkeit fand: „Vieles ist nur überliefert, weil ich gefilmt habe.“

Heide-Marie Härtel als Tanzfilmerin in den 1970er Jahren. Foto: Annekathrin Gut

Die große Zeit des Tanzfilms

Eine Karriere als Tänzerin ist kurz. Für ihre Zweitkarriere studierte Heide-Marie Härtel an der „roten Uni“ Bremen Kulturwissenschaften. Dort gründete sie 1988 das Deutsche Tanzfilminstitut, damals noch angegliedert an die Medienstelle der Universität. Ab 1981 arbeitete sie regelmäßig für NDR, ZDF, 3sat und arte über Tanz in Deutschland. Das Bremer Wirtschaftsressort vermittelte  einen Kredit für die erste professionelle Fernsehkamera. „Geschnitten haben wir oft  nachts im jetzt leider abgerissenen Bremer Medienhaus, weil das günstiger war. Wir hatten ja kein Geld.“

Heide-Marie Härtel begann, mit Unterstützung des Gothe-Instituts ihre eigenen TV-Sendungen zu entwickeln. Der Sender 3sat übernahm 1993 die 90-minütige Film-Edition „Tele-Tanzjournal“. Ab dann erschien alle zwei Jahre eine weitere Ausgabe. Das waren finanziell gute Zeiten. Die internationalen Goethe-Institute schickten die Tanzfilmerin um die Welt. Nicht nur in Europa, sondern auch in Sri Lanka, Peking oder Singapur hielt Heide-Marie Härtel Vorträge und zeichnete aktuellen Tanz auf.

Sie machte bis zu 50 Aufzeichnungen pro Jahr, war immer unterwegs mit kleinem Team. Die komfortable Situation endete nach 15 Jahren, als 3sat mit dem frühen Tod des Redakteurs auch die Tanz-Sendungen einstellte.

Filme im Backofen

Im Schnittraum des Tanzfilminstituts fädelt Medientechniker Claus Bouchard sorgfältig ein Magnetband in ein Reinigungsgerät „Marke Eigenbau“. Das alte Material muss nach der manuellen Reinigung anschließend thermisch gereinigt werden. Dafür kommt jede Spule für fünfzehn bis zwanzig Stunden in den Backofen.

In einen ganz normalen Ofen? „Ja“, sagt Bouchard, grinst und weist auf das Gerät neben ihm. „Die Temperatur wird aber nicht verraten. Die ist Betriebsgeheimnis.“ Danach bearbeitet er die Bildsignale, so dass sie digital gespeichert werden können. Neumeiers Tänzer erwachen zu neuem Leben.

Tanzfilminstitut-Leiterin Heide-Marie Härtel und ein wiederhergestelltes Video. Foto: Annekathrin Gut

Seit etwa acht Jahren ist die Digitalisierung eine der wichtigsten Aufgaben des Instituts. Neben dem persönlichen Archiv des Hamburger Choreografen sind auch die Aufzeichnungen der Stadt- und Staatsballette von Berlin, München und Stuttgart schon so für die Zukunft gesichert worden. Zahlreiche weitere Filmspulen und Videokassetten ältester Videonormen warten in Kisten und Regalen auf ihre Bearbeitung. „Unternehmen machen das für 1.000 bis 1.200 Euro pro Film“, merkt Institutsleiterin Härtel an. „Wir machen das mehr oder weniger ehrenamtlich.“

Recherchieren lassen sich alle Informationen in einer 2003 selbst entwickelten Datenbank. Schön wäre es, die Filme auch über das Internet weltweit verfügbar zu machen. „Aber unsere Rechner gehen langsam in die Knie“, sagt Heide-Marie Härtel. 42 Stück sind miteinander vernetzt, von irgendwoher zusammengesammelt und schwer in die Jahre gekommen. Hinzu kämen erhebliche Lizenzgebühren. „Immer kein Geld haben, aber trotzdem produktiv sein müssen“, Härtel zuckt die Achseln. Offenbar ist sie das gewohnt.

Den Datenschatz des Deutschen Tanzfilminstituts nutzen Choreografen, Tänzer und Forscher aus aller Welt also vor Ort in Bremen. Das belebt auch den Austausch in der regionalen Szene, wie zum Beispiel beim monatlichen „Tanzsalon“ oder bei Vorträgen und Kooperationen mit anderen Kulturinstitutionen.

Datenschatz und kreative Impulse

Am Schnittpult hat Yasmin Hasse vier Monitore gleichzeitig im Blick. Sie absolviert im Tanzfilminstitut ihr Freiwilliges Kulturelles Jahr und sichtet Material für eine Präsentation zur Gala „35 Jahre Deutscher Tanzpreis“ im Aalto Opernhaus in Essen. Die Aufzeichnungen aus dem Tanzfilminstitut zeigen der Crème de la Crème der Tanzsparte im Oktober wie sich der Tanz in Deutschland weiterentwickelt hat. Das Tanzfilminstitut begleitet das Event seit vielen Jahren. Heide-Marie Härtel ist Vorstandsmitglied im Dachverband Tanz Deutschland, dem Ausrichter.

Yasmin Hasse macht ihr Freiwilliges Soziales Jahr im Tanzfilminstitut. Foto: Annekathrin Gut

Sie ist überzeugt, dass der Tanzfilm nicht nur für die Forschung wichtig ist. Er könne dem zeitgenössischen Tanz auch kreative Impulse geben. Mit den Armen deutet Heide-Marie Härtel eine fließende Bewegung an: „Das klassische Ballett treibt immer voran, lebt von einer Energie, die auf eine virtuelle Kraftentfaltung zielt.“ Von solch einer Dynamik  können sich moderne Choreografen heute lösen. Auch filmische Stilmittel fließen in den Tanz ein, etwa Zeitlupe oder Zurückspulen.

Nicht alle finden die Arbeit des Tanzfilminstitutes sinnvoll. Beim Bremer Theater kann man sich aktuell nur schwer mit der langfristigen Archivierung von Tanzgeschichte  anfreunden, glaubt Härtel. Zugleich verlagert sich die Aufzeichnung zunehmend in den Amateurbereich – das Smartphone macht es möglich. Die Institutsleiterin plädiert für eine nationale  Dokumentations- und Abgabepflicht  für alle öffentlich geförderten Tanzaufführungen, vergleichbar den Bibiotheksabgaben im Bereich von Buchpublikationen. So könnten Choreografen eine Dokumentation in ihrem Sinne ermöglichen. „Dann hätten wir in der Tanzgeschichte nichts verloren.“

Mittendrin und doch am Rand

Klassisch ausgebildet: Heide-Marie Härtel als junge Tänzerin. Foto: Annekathrin Gut

Heide-Marie Härtel blickt aus ihrem Büro auf den Schnoor. Sie hatte sich gefreut, als ihr das Kulturressort vor zwanzig Jahren anbot, in das zentral gelegene Gebäude an der Bremer Kulturmeile einzuziehen. Inzwischen verschlingt die Miete den größten Teil des Budgets, das ohne die Aufträge der öffentlichen TV-Sender deutlich geschrumpft ist.

Das Tanzfilminstitut erhält ab 2020 200.000  Euro aus dem Bremer Kulturetat und 38.000 Euro aus Bundesmitteln. Neben der Leiterin, dem Studiotechniker und der FKJlerin arbeiten hier eine Mediengestalterin  und ein IT-Experte. Daneben gibt es aktuell eine Erasmus+-Studentin und viele Freiwillige.

Leiterin Härtel hofft, dass die Mittel erhöht werden: für die notwendigen Investitionen in Hard- und Software und für ihre eventuelle Nachfolgerin, die gerade in England promoviert. Heide-Marie Härtel wird in diesem Jahr 70 Jahre alt. Ihre eigene Stelle finanzierte sie in den letzten Jahren vornehmlich über ihre Rente.

Noch ein Film, diesmal in eigener Sache: Bücher tanzen aus der Reihe. So sehr sich ein Tänzer auch bemüht, jedes einzelne wieder ins Regal zu schieben, schlüpft an anderer Stelle wieder ein aufmüpfiges Buch heraus. Die Erasmus-Stipendiatin Catarina Garcia aus Portugal hat den Werbeclip gerade fertiggestellt. Heide-Marie Härtel freut sich: „So etwas Schönes entsteht fast nebenbei.“

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