Lettering ist mein Yoga – KLUB DIALOG

Lettering ist mein Yoga

Was experimentelle Kalligrafie mit Genuss zu tun hat

Wenn ich spätnachmittags von einem mit Projekten vollgestopften Tag nach Hause komme, führt mein Weg direkt zum Regal mit den Stiften. Aus einer großen Auswahl an Papieren, Kacheln und anderen Materialien suche ich mir heraus, was gerade zu meiner Stimmung oder meinen Ideen passt und setze mich an den kleinen Tisch in der Küche unserer Altbauwohnung.

Meine Inspiration ziehe ich oft aus den Erlebnissen des Tages, oder ich habe gerade neue Utensilien entdeckt und arbeite mit diesen kleine Serien aus. Einige dieser kleinen Projekte teile ich mit der Handlettering-Community auf Instagram. Solche Abende sind meist die Momente, auf die ich mich stundenlang im voraus freue. Endlich kann ich mich austoben.

Als ich erfahren habe, dass ich zum Thema Handlettering und Genuss einen Artikel schreiben soll, habe ich mich in der Community umgehört, was das „Lettern“ für sie mit Genuss zu tun hat. Die Antworten waren beinahe identisch: Es bedeutet für mich, mir bewusst Zeit für mich selbst zu nehmen. Aus Sicht des Hobbys ist das ein wesentlicher Punkt.

Das Handlettering ist eine Kunst, bei der es um Präzision und vor allem um viel Übung geht. Es ist ein Medium zur Entspannung und fördert die Konzentration, denn nur durch ständiges Wiederholen lernt man dazu.

Ich wage sogar zu behaupten, dass man sich durch diese Form des Schreibens besser kennenlernen kann. Beispielsweise habe ich mich zu Anfang regelrecht geweigert, etwas immer zu neu zu zeichnen, ich wollte es sofort können. Natürlich war dem nie so. Das Frustrationspotential ist bei dieser Kunst leider enorm hoch. Durch das Handlettering habe ich gelernt, geduldiger zu werden und dass Wiederholung und Präzision – beides sind nie meine Stärken gewesen – der Schlüssel zu einem schönen Ergebnis sind. All das erreicht man eben genau durch diese bewusste Zeit, die man sich nimmt um sich weiterzuentwickeln.

Ansatzweise kann man es vielleicht mit einem Sport vergleichen: Über die Zeit haben wir uns jeder eine eigene, meist ungesunde Stifthaltung für unsere Handschrift angewöhnt. Mit der ständigen Wiederholung und viel Training wird die Hand gezwungen, wieder eine angenehmere, gesündere Haltung anzunehmen. Je öfter ich übe, desto besser merken sich die Handmuskeln, wie der Stift oder der Pinsel zu führen ist. Auch das Wiederholen an sich wird zur Routine.

Ich bin Kommunikationsdesignerin und hatte schon seit jeher eine Vorliebe für Typografie. Für mich sind Buchstaben und verschiedene Schriftarten und -schnitte schon Genuss pur. Jeder Buchstabe für sich folgt gewissen Regeln in Form, Bedeutung und Zusammenhang in denen er verwendet wird. Er ist dementsprechend wiedererkennbar aufgebaut, folgt also einer gewissen immer wiederkehrenden Logik. Besonders reizvoll ist es, diese Lettern bis an die Grenzen der Regeln auszutesten, ohne dabei unlesbar zu werden – so wie es das Grafitti und die Kalligrafie vorgemacht haben.

 

Ähnlich wie beim Portraitieren von Menschen verhält es sich mit dem Gestalten von Buchstaben: Immer gleich und immer anders. Die Kunst besteht darin, Wörter durch das Design ihrer optischen Bestandteile so zu inszenieren, dass ihre Bedeutung verdeutlicht oder gar verändert wird.

Da sich das Lettering auf das Gestalten von Buchstaben, Wörtern und Texten bezieht, ist es vielseitig einsetzbar und der Vorteil, dass es für jeden individuell in Form und Material anwendbar ist, macht es zudem leicht zugänglich. Es bleibt selten beim einfachen Zeichnen mit Stift und Papier: Zur Weihnachtszeit werden Geschenke, Kugeln, Glühweintassen und Fensterscheiben „belettert“.

Was für mich zu Anfang harte Arbeit war, ist heute für mich purer Genuss. Ein Kollege erzählte mir, er sei wie ein Surfer auf der Suche nach der perfekten Welle. Wir Handlettering-Künstler und -Künstlerinnen sind auf der Suche nach der perfekten Kurve, dem perfekten Schwung, nach dem perfekten Schliff, der das Lettering mit seiner Bedeutung eins und zu einem Kunstwerk werden lässt.

 

Die Autorin

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