Bremen aus den Augen einer Touristenführerin gesehen – KLUB DIALOG

Bremen aus den Augen einer Touristenführerin gesehen

Ein ganz subjektiver Blick auf die Stadtentwicklung

Was fällt einer Stadtführerin auf, die in den letzten zehn Jahren zigtausend Mal durch Bremens Wohnzimmer gelaufen ist? Die quasi den Teppich abgelaufen hat von der guten Stube vorbei am Balkon durch den schmalen Flur bis rüber bis in die Küche, in der ja bekanntlich immer die besten Partys stattfinden? Zum Beispiel, dass die Bremer nicht mehr nur kerzengerade und im Sonntagskleid auf ihrem alten Sofa sitzen! Sie sitzen mit ihren vielen Gästen auf Klappstühlen und Hockern, legen Kissen auf Treppenstufen und Fenstersimse, funktionieren Bierkisten und Fässer zu Bänken um. Der historische Marktplatz ist zu einem lebendigen Wohnzimmer geworden, in dem fast jedes Wochenende gefeiert wird, die Schlachte hat sich vom kleinen Balkon mit Abstellfunktion zur einladenden Terrasse entwickelt und selbst im schmalsten Teil der Wohnung, im Schnoor, findet sich immer noch ein Plätzchen für kleinste Sitzecken.

Foto: Katharina Rosen

Jedes Jahr im Frühjahr sprießen nun die Sonnenschirme aus dem Boden – neben den Stadtmusikanten wird Weißwein im Takt der Gruppenfotos serviert, auf dem Domshof sitzt man mit Smoothie und Saft, Brot und Butter im Trubel des Wochenmarkts und auf den Stufen vor der Bürgerschaft sitzen die Selbstversoger mit ihren mitgebrachten Brotdosen.

Zwischen Schütting und Rathaus beobachtet man über Bruschetta und Schneemustorte das Geschehen rund um den Roland, in der Böttcherstraße gibt´s Kölsch zum Glockenspiel und an der Schlachte meint man beim Flaschen öffnen das „Sail Away“ von Hans Hartz zu hören.

Auch im Schnoorviertel hat sich viel getan – neben den Korbstühlen der Sachertortencafés und Bratkartoffelrestaurants finden sich nun auch die schlanken schwarzen Sushi-Stühle, die Knipp-Burger-Bänke und die Slow-Food-Biergartenstühle.

Das Quartier wurde in den 60ern/70ern wieder auf- und aus den schönsten Teilen der zerstörten Altstadt zusammengebaut – ein Tourismushighlight mit einem Mix aus Handwerk, Gastronomie und Kultur. Viele der seither hier ansässigen Betreiber haben sich relativ zeitgleich zur Ruhe gesetzt, weshalb es einen richtigen Betreiberwechsel gegeben hat.

Und mit den Neuen hielt ein frischer Wind Einzug: Da sind zum Beispiel die Brüder Tosun aus Istanbul, die mit ihren Familien mittlerweile nicht nur die traditionsreiche Konditorei im Schnoor sondern auch die Bäckerei, das Café im Amtsfischerhaus und die Schokostube betreiben und mit ihren Tabletts voller Leckereien über das Kopfsteinpflaster laufen. Wo früher Drehorgeln repariert wurden, produzieren sie nun Pralinen und ergänzen das klassische Konditorei-Sortiment mit Neuerungen wie Kluten-Eis und ihrer schon jetzt legendären Schnoorkuller-Torte.

Auch Daniela Pataj-Vogt versüßt mit ihrer Stieleis-Manufaktur den Aufenthalt in den alten Gassen und lässt sie noch ein bisschen bunter und vor allem etwas italienisch erscheinen: ihre Gelato-Sorten Erdbeer-Minze, Birne-Basilikum, Rote Grütze-Vanille lassen einem das Wasser im Mund zusammen laufen und die Tatsache, dass es obendrein auch Feierabend-Varianten wie Moscow Mule, Mojito und Gin Tonic-Gurke gibt, macht die Entscheidung nicht eben leichter. Im Innenhof lässt es sich übrigens ganz wunderbar „draußen-sitzen“!

Auch bei Marvin Gray gibt´s den Freisitz gratis – in diesem Fall zum Kaltgetränk. Der Halb-Engländer ist vor Kurzem mit Gray´s Bar ins Concordenhaus gezogen und hat dort erst einmal mächtig umgebaut: mit den unterschiedlichen Ebenen, den diner-ähnlichen Sitzecken und den auffälligen Tapeten ist moderne und vor allem helle Gemütlichkeit eingezogen, es gibt regionales Bier und Potato-Dippers – Pulled Pork soll folgen. Außerdem kann man hier nun Dart spielen – direkt neben der schmalsten Gasse der Stadt!

Nur einen Pfeilwurf entfernt (ja, irgendwo musste eine Überleitung her…) liegt mit dem „Viertel“ der Stadtteil, dessen Entwicklung in der Stadt wohl am stärksten präsent ist, wenn man mal von den Bauten in der Überseestadt absieht.

Bleiben wir bei dem Vergleich mit der Wohnung, dann ist das Viertel wohl die Küche – der Ort, an dem alle zusammen kommen und wo irgendwann alle Partygäste zu finden sind.
Und so wie wohl jeder eine Meinung dazu hat, ob eine Küche eher gemütlich sein sollte, mit Eckbank, offenen Regalen und einem alten Teekessel oder chromglänzend mit Stehtisch und einer teuren Kaffeemaschine, so ist man auch mit der Frage nach den Veränderungen im Ostertor und Steintor sofort mittendrin in einer oft hitzigen Diskussion um Gentrifizierung, hohe Mieten und „die gute alte Zeit“.

Foto: Katharina Rosen

Da sind die Bremen-Besucher, die die wunderschön renovierten, pastellfarbenen Fassaden der alten Bürgerhäuser bewundern und die nach unserer Viertel-Führung am Ziegenmarkt stehen – verunsichert, ob sie sich nun an der Helenenstraße, der „Schänke“ und den Dealern am Eck vorbei wagen sollen.

Foto: Katharina Rosen

Da ist der Polizist, der berichtet, dass die, die er früher am Sielwall am Steinewerfen hindern musste heute um 22:05 Uhr bei ihm anrufen um sich über den Straßenlärm zu beschweren. Da ist die Leitung voller Schuhe – das sogenannte Shoefiti ist eine Form von Streetart – die zum Sinnbild des alternativen Viertels geworden ist.

Dass die Schuhe illegal dort hochgeworfen wurden störte niemanden, erst als sie eine Tages allesamt entfernt wurden, war der Aufschrei groß. Da ist die Studentin, die unsere Graffiti- und Streetartführung mitmacht und eine Arbeit darüber schreibt, wie diese Form von Tourismus Un-Orte wieder zu Orten werden lässt. Da sind die Betreiber der alten Kneipen, die sich nach Jahrzehnten plötzlich neuen Nachbarn gegenüber sehen, die zwar mitten im Szene-Viertel wohnen, aber die Szene in gebührendem Abstand wissen möchten.

Und da ist die alte Dame, die immer auf ihrem Plastikgartenstuhl vorm Haus sitzt und häkelt. Sie wohnt hier seit 50 Jahren – in dem Haus, das sie als junge Frau mit Freunden besetzt hielt. Sie kauft ein im genossenschaftlich betriebenen Bauernladen, bezieht gemeinschaftlich Ökostrom und trinkt mit ihrer Freundin Latte Macchiato im schick renovierten Café gegenüber. Vielleicht geht nämlich beides? Und wenn ihre Tochter sich Sorgen macht um ihre Kleine, die am Wochenende unbedingt in die „Lila Eule“ will, dann lächelt sie verschmitzt und sagt: „Lass sie nur, hat mir ja damals auch nicht geschadet!“

Die Autorin

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